Romantik-Ausstellung

Romantik und Parlamentarismus

Hochansehnlicher ständischer Ausschuß! Der Sturm, der in die Zeit gefahren ist, hat die politischen Zustände Deutschlands in ihrer ganzen unseligen Gestalt, Allen erkennbar, bloßgelegt. Es ist nöthig in dieser bewegten Zeit, daß Deutschland gerüstet dastehe, nicht um herauszufordern, gewiß aber zu Schuß und Schirm seiner Grenzen. […] / Einem Volke, das von der heiligen Pflicht durchdrungen ist, seinem vielgefährdeten Boden nicht eine Spanne weiter entreißen zu lassen, mangelt die Sicherheit, daß es nicht als willenloses Werkzeug diplomatischer Verwickelungen die Waffen ergreife; versagt ist ihm das begeisternde Bewußtsein, für eine auch politisch würdige Stellung unter den gesitteten Völkern mit Gut und Blut einzutreten. – / Das große Grundgebrechen unsers deutschen Gesammtvaterlands läßt sich in wenige Worte fassen: es fehlt die volksmäßige Grundlage, die freie Selbstthätigkeit des Volks, die Mitwirkung seiner Einsichten und Gesinnungen bei der Bestimmung seines staatlichen Lebens. In geistiger und sittlicher Bildung keinem andern nachstehend, hat das deutsche Volk noch immer nicht von dem Geiste, der in ihm lebt, sondern von den Ueberlieferungen staatsmännischer Weisheit die Ordnung seiner Geschicke zu erwarten. Dieses politische Grundübel verzweigt sich in die einzelnen Mängel, deren bedeutendste, durchgreifendste jezt überall zur Abhülfe bezeichnet werden. / Es fehlt die mitwirkende Vertretung der Nation an der Stelle, wo über die wichtigsten innern und äußern Angelegenheiten des Vaterlandes, wo selbst über wesentliche Rechte, die in den Verfassungen einzelner Staaten verbürgt find, entschieden wird; es fehlt in den meisten Bundesstaaten die allgemeine Volksbewaffnung, in der zugleich die Gewähr liegt, daß nur solche Kriege geführt werden, die das Volk für nöthig erkennen muß; es fehlt die freie Aeußerung mittelst der Presse, dieses klare Recht des württembergischen Verfassungsvertrags; Versammlungen und Vereine zur Berathung der öffentlichen Angelegenheiten unterliegen den drückendsten Beschränkungen; Oeffentlichkeit und Mündlichkeit, unentbehrlich für den unmittelbaren Einblick und das allgemeine Vertrauen in die Verwaltung der Rechtspflege sind hier zu Lande nur erst zu ungenügendem Anfang gelangt; es fehlt an den Grundbedingungen einer kräftigen Entwickelung des wahren Gemeingeistes im nächsten Kreise der Gemeinden und Körperschaften; und im Verfassungsleben Württembergs, das wir an die gemeinsamen deutschen Verhältnisse überall anknüpfen möchten, fehlt in[s]besondere noch der ungetrübte Ausdruck der Volksmeinung durch eine reine, volksthümliche Wahlkammer, ein Uebelstand, der dem nothwendigen, vertrauensvollen Zusammenhange des Volks mit seinen Vertretern und der Wirksamkeit der Letztern den erheblichsten Eintrag thut. / Hienach richten wir Unterzeichnete an den hochansehnlichen ständischen Ausschuß, als den Stellvertreter der gegenwärtig nicht versammelten Kammern, das angelegentlichste Ersuchen:
Die unverweilte Einberufung der vertagten Stände-Versammlung zu veranlassen, damit die Kammern folgende Punkte zu ihren Anträgen an die Königl. Staatsregierung schleunig und nachdrücklich erheben mögen:
1) Ausbildung der Gesammt-Verfassung Deutschlands im Sinne eines Bundesstaats mit Volks-Vertretung durch ein deutsches Parlament am Bundestage;
2) Allgemeine Volksbewaffnung;
3) Preßfreiheit im vollen Umfang, gemäß dem §. 28 der Verfassungs-Urkunde;
4) Aufhebung der Beschränkungen, welche gegen Vereine und Versammlungen zu Berathung öffentlicher Angelegenheiten bestehen;
5) vollständige Durchführung des Grundsatzes der Oeffentlichkeit und Mündlichkeit der Rechtspflege mit allen sich daran knüpfenden Konsequenzen;
6) Vollkommene Herstellung einer wirklichen Selbstständigkeit und Unabhängigkeit der Gemeinden und Bezirks-Körperschaften;
7) Revision der Verfassungs-Urkunde nach den während ihres 28jährigen Bestehens gemachten Erfahrungen, namentlich zum Zwecke der Herstellung einer ungemischt aus der Volkswahl hervorgehenden Abgeordneten-Kammer.
Wir enthielten uns, die einzelnen Anträge ausführlicher zu begründen, sie betreffen Gegenstände, die einer deutschen Stände-Versammlung wohl bekannt sind, und wir sehen voraus, daß der Ruf der Zeit, wie er uns ergriffen hat, auch an die Herzen der Volksvertreter und der Leiter des Staats vernehmlich geschlagen habe.
Verehrungsvoll etc. etc.
Tübingen, den 2. März 1848.
Folgen 1102 Unterschriften.

„Adresse an den Ausschuß der Ständekammer. Verfaßt von Ludwig Uhland.“ Deklariert als „Erstes Product der freien Presse in Tübingen.“ (Universitätsbibliothek Tübingen, Signatur L XV 56.2, 2. Stück)

In seiner „Adresse an den Ausschuß der“ württembergischen „Ständekammer“ benennt Uhland die mangelnde direkte Volksvertretung als „politisches Grundübel“ seiner Zeit und leitet daraus grundlegende Forderungen ab: nach Presse- und Versammlungsfreiheit, nach einer parlamentarischen Volksvertretung und nach freien Wahlen.