Romantik-Ausstellung

Warum soll der Mensch anders sein, als er ist?

Die vierte Vitrine trägt den Titel „Philosophische Studien“.

Günderrode war sehr von der Philosophie ihrer Zeit fasziniert. Ihr Interesse an der Philosophie des deutschen Idealismus ist wohl zunächst auf Lesepraktiken innerhalb der Familie zurückzuführen. Um 1800 lasen Günderrode und ihre Mutter Louise Die Bestimmung des Menschen von Johann Gottlieb Fichte, und Günderrode machte Notizen zu den einzelnen Kapiteln. Auch schrieb sie zusammen mit ihrer Freundin Susanne von Heyden längere autodidaktische Studien zur idealistischen Philosophie. Die Einträge in ihren privaten Studienheften zeugen von ihrem regen Interesse an Kant, Herder, Fichte, und Spinoza.

Im Jahr 1800 setzte sich Günderrode intensiv mit Kants Philosophie auseinander, allerdings ohne seine Werke im Original zu lesen. Stattdessen studierte sie Lehrbücher über die Kant’sche Philosophie, die von dem Berliner Kantianer Johann Gottfried Kiesewetter verfasst wurden. Das Kiesewetter-Exzerpt links trägt die Überschrift: „Reine allgemeine Logik / ersten Theils, erste Hälfte: geht bis zu der Lehre von den Schlüssen“.

Rechts daneben ist ein etwas späteres Blatt zu sehen, auf dem Günderrode aus Frans Hemsterhuis philosophischem Dialog über Dichtkunst und Bildhauerei mit dem Titel Simon ou les facultés de l’âme (Simon oder von den Kräften der Seele) exzerpierte. Sie schrieb zunächst das französische Original ab, ab dem Ende der ersten Seite jedoch übersetzte sie, wie Sie sehen können, den Text selbständig ins Deutsche.

Ein weiteres Exponat, das Sie unten in der Vitrine sehen, macht deutlich, wie Günderrode selbstständig mit philosophischen Begriffen umgeht. Es handelt sich um einen Brief aus dem Jahr 1804, der an Claudine Piautaz gerichtet ist, eine Erzieherin im Frankfurter Haus der Familie Brentano.

In diesem Brief wird besonders deutlich, wie bei Günderrode Philosophie und Dichtung ineinander übergehen und miteinander verflochten sind. Nach einer Klage über den eigenen, ich zitiere: „vertrocketen Dichtungsquell“ nimmt sie Bezug auf Kant’sche Vorstellungen aus der Erkenntnistheorie, nämlich auf das Theorem, dass Sinneserkenntnis ohne die Merkmale von Zeit und Raum nicht zu denken ist. Deutlich wird auch, dass Günderrode den Vorschriften einer strengen Tugendlehre skeptisch gegenübersteht, da sie die angeborene Güte des Menschen leugnet:

Alles war gut was geschaffen war, sagt die heilige Schrift, warum war es denn der Mensch nicht? […] Sich Stükeweise selbst morden, ist also Tugend.

Hinsichtlich der Form ist dieser Brief durchaus romantisch, da er Formen und Themen mischt: Neben der lyrischen Beschreibung einer verregneten Gegend und philosophischen Überlegungen zur Erkenntnistheorie und Tugendlehre enthält der Brief am Schluss eine frühe Fassung des Gedichts Der Trauernde und die Elfen.