Warum soll der Mensch anders sein, als er ist?
Wir kommen nun zur zweiten Vitrine, die den Titel “Geselligkeit im Frankfurter Patriziat“ trägt:
Die literarische Rezeption Günderrodes wurde sehr durch ihr Verhältnis zu der Familie Brentano geprägt. Bettine von Arnim, die Schwester von Clemens Brentano, veröffentlichte 1840 einen Briefroman mit dem Titel Die Günderode, der angeblich den Briefwechsel zwischen ihr und Karoline von Günderrode wiedergibt. Die Briefe sind von Bettine von Arnim aber teilweise fingiert, dennoch prägte der Briefroman stark das Günderrode-Bild des 19. und 20. Jahrhunderts.
Allerdings beschränkte sich Günderrodes soziales Umfeld durchaus nicht auf die Bekanntschaft mit den Brentanos. Auch Mitglieder der Bankiersfamilie Leonhardi und der Familie Fichard gehörten zu ihrem Bekanntenkreis.
Der erste Brief in der Vitrine ist an Günderrodes Freundin Karoline von Barckhaus gerichtet, die der Familie der Freiherren von Leonhardi entstammte. Günderrode beschwert sich über die sozialen Verhältnisse während ihres Aufenthalts bei ihrem Großvater mütterlicherseits in Butzbach um 1800. Grund des Aufenthalts war der Tod ihrer Großmutter Luise, der Verfasserin des zweiten Briefs in der ersten Vitrine. Karoline von Günderrode verbrachte drei Monate in Butzbach und kümmerte sich um ihren Großvater, Christian Maximilian. Von dort aus schreibt sie am 14. Februar 1800:
Wie ich lebe? Oft unzufrieden mit mir selbst, von denen die mich hier näher umgeben (zürnen Sie mir nicht deswegen) kan ich keines eigentlich lieben, ich kann mir keine Liebe ohne Harmonie der Gesinnungen denken, diese ist hier unmöglich. Und oft, ich kann es einer Freundin wie Sie nicht läugnen, oft fühle ich Bitterkeit gegen diese Menschen wenn ich sehe daß sie sogar kein Gefühl haben für das was mich intereßirt; […]
Günderrode betont in ihrem Brief, wie konservativ und altgläubig die Menschen in Butzbach sind. Sie hingegen unterstützt die progressiven Ideale der Aufklärung. Dies teilt sie mit dem Pfarrer in Butzbach Johann Georg Diefenbach.
Der zweite Brief stammt aus dem Jahr 1800 und ist wohl an den Bruder von Karoline von Barckhaus gerichtet, an Friedrich von Leonhardi. Dieser Brief enthält eine der provokantesten Stellen, in denen sich Günderrode über die Geschlechterverhältnisse äußert. Sie gipfelt in einer Korrektur des biblischen Sündenfalls:
Der Himmel verzeihe mirs, aber ich kann mich nicht enthalten die alte Sage vom Weib u der Schlange eines Schreib, Sprach oder Drukfehlers zu beschuldigen: gewis hat der Mann zuerst seine frevelhafte Hand nach unheiliger Erkentnis ausgestrekt; u sollte ich mich auch hierin irren, so darf doch der Mann dem Weib keinen Vorwurf machen, denn wie übel sähe es mit Eurer Unsterblichkeit aus wenn es keine Weiber gäbe. Wie würdet Ihr sie gähnend verwünschen.
Der genaue Zusammenhang des Briefes lässt sich nicht rekonstruieren, aber der kritische und ironische Ton ist doch unverkennbar. Freundlicher ist Günderrodes Briefwechsel mit Friedrichs Schwester Karoline von Barkhaus, die ihre literarischen Interessen mit Günderrode teilte.
Der dritte Brief stammt aus dem Jahr 1804 und wurde von ihrer Freundin Lisette Nees von Esenbeck geschrieben. Auch hier geht es um das Selbstverständnis der jungen Frauen. Lisette betont einerseits ihr Streben nach Freiheit, zugleich aber die Sehnsucht nach totaler Verschmelzung mit ihrem Gatten, dem Mediziner Christian Nees von Esenbeck, den sie kurz zuvor geheiratet hatte. Wohl in einer Anspielung auf die Klopstock-Gewitter-Szene aus Goethes Die Leiden des jungen Werthers gipfelt die Passage in einem überwältigenden und erlösenden Unwetter:
Die Verhältnisse der Bürgerlichkeit sind überall beengend und jede Berührung mit Menschen heißt dem freien Schwunge der Liebe die Flügel kürzen. Nüzlichkeit ist ein Bleygewicht an dem Adlerfluge der Phantasie. – Errinnerst Du Dich des Abends noch als ich die Nacht bey Dir zubrachte und das Andenken an Nees und meine Liebe zu ihm mein ganzes Wesen auf eine Höhe hob die mich die aber höchsten Beziehungen unsrer unendlichkeit ahnen ließ? Wie da mein heißer Wunsch war an seiner Seite die Größe eines Gewitters zu empfinden und mich mit Wollust in das Rollen des Donners zu stürzen!