Display Case 1
Rahel Levin Varnhagen schrieb seit den 1790ern Tagebuch. Über ein Dutzend befinden sich in der Sammlung Varnhagen in Krakau. Doch die Bücher enthalten weit mehr als Alltagsnotizen und vertrauliche Selbstgespräche, wie sie für das journal intime typisch sind. Neben Aphorismen, Lektürenotizen, Gedichten, Rezensionen und Mitschriften aus geselligen Zusammenkünften sind hier auch zahlreiche Ausschnitte aus Levin Varnhagens Briefen versammelt. Die Texte ordnete sie schon zu Lebzeiten für die Nachwelt und die Publikation. Erste Auszüge aus ihrem Briefwechsel mit Veit erschienen 1812 anonym, unter der Herausgabe ihres Ehemanns in spe, Karl August Varnhagen (1785 – 1858). Die Tagebücher und Aufzeichnungen, von ihr selbst treffend als „Denkblätter“ bezeichnet, geben Einblick in Levin Varnhagens komplexe Denkarbeit. Immer wieder kreist sie dabei auch um das Unvermögen der Sprache, die Wirklichkeit angemessen wiederzugeben, und um die Probleme eines vertraulichen Austauschs unter Gleichgesinnten im Medium des Briefs. Im ehemaligen Haushaltsbuch des Vaters („Papaens blaues Buch“), das zu Tagebuch „A. 1799.–1811.“ umfunktioniert wird, verdichtet sie im März 1799, zum Höhepunkt ihres intimen brieflichen Austauschs mit Veit, ihre rigorosen Überlegungen zum Verhältnis von Wahrheit sprechen und Scham empfinden.
Rahel Levin Varnhagen (1771 – 1833)
Buchdeckel von „Tagebuch A“
mit Handschriften von Rahel Levin Varnhagens Vater („December 1784“), Rahel Levin Varnhagen („Papaens blaues Buch“) und Karl August Varnhagen („A. 1799.–1811.“)
1 Seite (faksimiliert), 18 x 11,5 cm
Sammlung Varnhagen, Biblioteka Jagiellońska, Krakau
„Tagebuch A“
[März 1799]
1 Doppelseite (faksimiliert), 17,5 x 10,5 cm
Sammlung Varnhagen, Biblioteka Jagiellońska, Krakau
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„Wenn man nur immer die Geschiklichkeit hätte, wahr seyn zu können, so wäre es nicht möglich, sich je schämen zu dürfen; denn man hat sich entweder etwas zu gestehen was man ändern oder was man nicht [Tintenfleck] ändern kann. Aber man irrt sich wenn man glaubt daß man nicht immer wahr sein dürfte; man hat
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entweder nur keine Aufmerksamkeit darauf, keine Geschiklichkeit, die Wahrheit zu finden, oder am öftersten keine Gegenwart des Geistes, sie zu finden; so lügt man; denn sie nachzuholen [,] dazu gehört schon eine heroische Tugend, u Fleiß.“