Intime Kommunikation

Vitrine 4

KAV 11.9.1815 S. 1
KAV 11.9.1815 S. 2
KAV 11.9.1815 S. 3
KAV 11.9.1815 S. 4

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„Frankf: Montag Mittag halb 1 Uhr den 11ten Septbr.: 1815.

Gestern Mittag als ich von einem Sonnengang mit Doren zurük kam fand ich deinen mich überaus beglückenden Brief vom 2t  Septb: mit den Modekupfer u Ney’s Vertheidigung. Liebes! ‚gelehriges Herz!‘ du verheißest mir in diesem lieben, aus Liebe gewebten Brief die Mitte Octbr: zu dem nicht zu erwartenden Glük, dich wiederzusehen! Wenn ich nur leben bleibe! In keiner Krankheit hab’ ich mich so vor dem Todte gefürchtet. Ich soll vergnügt seyn! Einziger theurer Freund [Tintenfleck] ich bin es (ich will Geduld haben!) da ich dich bald sehen soll: wir werden hier, auf der Reise, allenthalben sehr vergnügt seyn; zu Hause allenthalben; u die Welt geht ihren Gang, ‚wie Sonne und Mond u andere Götter‘ wir erleben das Ende nicht, drum wollen wir in der Mitte leben, u ihr zu schauen. Du denkst unaufhöhrlich an mich? Fragst bey aller Gelegenheit um meine Billigung u Einsicht bey deinem ganzen Thun u Laßen; leider [oberhalb eingefügt: auch] oft ohne sie zu bekommen fürchtest du, aber darum doch nicht ablaßend in deinem Eiffer? Und ich: –! Konnte eh’ ich dich hatte, gut, ganz gut, allein leben auf der Welt; hofft’ es, ersah es, pratendirte es gar nicht anders, suchte es nicht mehr, in Gelaßenheit, u Vergnügtheit, wenn sie mich in Ruhe ließen, u ein ungraziöses Schiksal mich nicht aufzustöhren beflißen war, ‚fand mein karges Futter‘ vergnügt und reisefertig, ‚auf jedem Hoff.‘ Gott weiß es, du auch; u es ist wahr.

 

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Nur geneigt, war ich nicht mehr, weil ich es nicht mehr fähig war, mein Leben wieder für ein Vierteljahr zusammen gehen bey irgend einem Wesen von Menschengeschlecht einzusetzen; die Proben meiner unbedungenen hingebung hatte ich mir, also allen anderen [eingefügt von K.A. Varnhagen: Freunden und Freundinnen] zu Genüge rein u föllig [von K.A. Varnhagen durchgestrichen und eingefügt: völlig] abgelegt; ein zum Narrenhaben an mir selbst aus u aufgeführt, war bey einer unschuldigen Seele, bey einem unbeflekt unerschüttert redlichen Herzen unmöglich; so war meine Seele u Herz. Du hast es erfahren, daß ich plump scheinen mochte u mir keinen Spaß mehr gefallen laßen mochte. Aber nun sollst du auch erfahren wie ich ein ernstes Herz in meines aufnehme. Mit meinem Leben erwidre ich’s. Wiße, ermeße, wie ich es ansehe daß du mich wieder in’s Leben hinein geführt hast. Ich will ja nun leben, weil du es wünschest, weil ich mit die leben kann. Von dir hab’ ich ja erfahren daß auch ich geliebt u gehegt werden kann, wie ich Andere hege u liebe. daß ich kein verzaubertes monstre bin: worüber ich, du weißt es, ganz gefaßt u vergnügt war. Ich liebe dich deiner Liebe wegen: u nicht, du glaubst es, weil ich der Gegenstand dieser schönen Herzensentwiklung bin: nein! weil sie in dir möglich, weil ich dies schöne Spektakel sehe; weil ich solchen gehaltenen, erglühten Ernst nie sah, u sah ihn nie, [eingefügt: weil] er ist nur selten, weil er so schön ist; ein Gelungenes! Ein Echtes; u vom Schiksal bejahtes mit einem Gegenstand! Ich sehe in dir eine Unschuld. Ein Gewährenlaßen, ein sich entwiklendes Herzensgedeien: so denk’ ich mir hätte ich meinem Herzen zusehen können, hätte man; in echter, rother durchsichtiger Glut nahm

 

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ohne Rükhalt, ohne Vorbedacht alles unschuldig auf; u wurde nicht einmal natürlich begegnet. Angeschrieen, überschrieen, beseitigt, unberüksichtigt, die ganze lange Jugend durch; das Andere mag ich gar nicht Einmal nennen. Gott selbst höhrte mich nicht. Er wollte es so: u ich habe mich schon längere Zeit unterworffen. Sey auch nachsichtig August wenn du jene Frische oft nicht findest, die Einem Glük conservirt, oder Untugend, u eitle Gedankenlosigkeit, loser Geitz, der an die wahre Herzenskammer nie anfordert. Goethe sagt so schön in seinem Leben, bey Gelegenheit der Katastrophe mit Gretchen, ‚die Knaben u Jünglingspflanze war ihm aus dem Herzen gebrochen‘, u [eingefügt: es] bedurfte längere Zeit – so ungefähr – eh Neues sich erzeugen konnte: dies ist der Sinn der letzten Worte, die ich nicht mehr weiß. Mir brachen Eltern, Geschwister, Freunde u Freundinnen, u auch Geliebte ganze Vegetationen hintereinander aus. Ich schwieg in meiner Jugend, in meinem Reichthum, und dachte es müßte so seyn. Hielt ewig mich für ungraziös, u das so intim, so gewiß, daß ich’s [Tintenfleck] ich’s nicht einmal sagte, da doch meiner Meinung nach, mir Niemand auf solche Klage zu antworten hätte, wie auf die wegen eines Bukels oder anderer Gebrechen. Ich bin aber nicht unglüklich, weder im Gefühl, noch in der Ueberlegung. Ein schönes Schiksal hatte ich nicht; aber gottgesegnet war ich doch; es war immer Feyertag in mir. Mit all diesem wollte ich dir nur zu erme[ßen] geben, wie du mir mit deiner Art u Liebe gegen mich erscheinen

 

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und seyn mußt: u ob ich dir erwiedere, dich erkenne! Aber auch die Andern. Denn wiße! – in détails will ich mich hierüber nur mündlich vernehmen laßen, u wie das nach u nach in mir vorgeht – jetzt, da ich gar nichts mehr mit ihnen zu schaffen habe, ich nicht mehr génereuse zu seyn brauche, nicht mehr vor Gemüthsaufruhr den der bedingte Augenblik mit seiner Noth u zunehmenden Entschlüßen erheischt, nicht überlegen kann, werden sie mir erst ganz verächtlich, zu reinen unbekanntem Nichts, zum Ekelhaß aus Verwerffung, zu meiner eigenen Befremdung, die auch schon vorüber ist. Die Lebens- u Denkresultate aber klingen, u schmecken bey weitem Anders. Diese sind, eine für’s Mittleid doch zu kalte Betrachtung, der Menschensituation überhaupt. Wir sind in Verworffenheit alle; in einem solchen Zustand; u wahrlich, sich selbst opfernde Heldenarten gehören dazu, das sitg sittliche Haupt, das Auge der Seele nur, aus all den Lügenbedingnißen zu erheben; welches so natürlich seyn sollte, u ist, so bald der Fall wirklich eintritt. Man kann den Schlechtergearteten nur als minderen Gewürm ausweichen, u ihnen wenn sie doch leiden, helfen; u dies geschiht auch von Jeden in seinen Kreisen von bewußtseyn, bewußt u unbewust. Es giebt ganz was Anderes, was wir nicht faßen. Das weiß ich. Und nun komme! Gott führe dich zu mir.“