1. Kapitel: Bettina Brentano
Die Intimität der Beziehung zwischen Bettina Brentano und ihrem sechs Jahre älteren Bruder Clemens verdankt sich einer beiden gemeinsamen Erfahrung. Wie Clemens musste auch Bettina die Entfaltung der eigenen Individualität gegen familiäre und gesellschaftliche Widerstände durchsetzen. Als „das lieblichste Du selbst“ – wie Bettina schreibt – inmitten eines Umfelds, in dem die „andern“ allenfalls „zusammengeliehene, durch Umstände und Eigenheiten [...] entstandne Unselbstheiten“ sind, wird ihr Clemens schon früh zum Vorbild und zum Vertrauten. Der ‚Frühlingskranz‘, den Bettina ihrem Bruder viele Jahre später flicht, ist das beredte Zeugnis dieser „ersten Geschwisterliebe“.
Der ausgestellte Brief vom Februar 1804 – einer der wenigen Briefe von Bettina an Clemens, die sich erhalten haben – gehört einer späteren Phase der Beziehung an. In ihm bekundet sich der Beginn einer Emanzipation. Die Ausschließlichkeit der Liebe, die Clemens einfordert, entspricht nicht länger Bettinas Gefühlslage. Noch spielt die Büste, die Clemens als Objekt der „Anbetung“ eigens für seine Schwester anfertigen ließ, „die Hauptrolle in [Bettinas] Umgebung“. Aber er soll keine Briefe mehr schreiben, mit denen er ihr Herz und ihre Liebe an sich reißt. Die Transformation des Liebesgefühls, die Bettina beschreibt, verändert zusehends die Beziehung zu ihrem Bruder. Schmerzlich ist für sie die bald sich einstellende Einsicht, dass auch Clemens darin versagt, die Eigengesetzlichkeit ihres Charakters anzuerkennen.